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Gesundheitstipps > Patientenverfügung

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         Ärztliche und juristische Fragestellungen

         der Patientenverfügung  

 

Anhand dieses Artikels aus Deutsches Ärzteblatt, Jahrgang 106, Heft 3 vom 16.01.2009 möchte ich Ihnen dieses schwierige Thema nahe bringen und versuchen, die Problematik aus ärztlicher Sicht darzustellen.

 

ENTSCHEIDUNGEN AM LEBENSENDE

„Hochkomplex und individuell"

Die Notwendigkeit, zwischen der Willensäußerung des Patienten, den Wünschen der Angehörigen und der ärztlichen Überzeugung abzuwägen - ein Beispiel

Charly Gaul, Jürgen Helm

                                                                                       Seit einigen Jahren werden der
     Umgang mit dem vorausverfügten
     Patientenwillen und die Frage
     nach einer gesetzlichen Regelung
     zur Verbindlichkeit von
     Patientenverfügungen kontrovers
 diskutiert. Die Ärzteschaft hat sich an dieser Diskussion beteiligt, zuletzt ausführlich mit den von der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer erarbeiteten „Empfehlungen zum Umgang mit Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung in der ärztlichen Praxis" (1).

Bei der Heftigkeit, mit der gelegentlich über das Thema gestritten wird, läuft man Gefahr zu übersehen, dass derzeit nur ein kleiner Teil der Patienten, die im Krankenhaus behandelt werden, überhaupt eine Patientenverfügung erstellt hat. Aufgrund der öffentlichen Debatte ist jedoch zu erwarten, dass die Zahl derjenigen zunimmt, die mithilfe einer Patientenverfügung ihr Selbstbestimmungsrecht auch für den Fall der Äußerungsunfähigkeit wahrnehmen wollen. In neueren empirischen Studien wurde allerdings die Tendenz sichtbar, dass gerade chronisch Kranke die Entscheidungen in den letzten Lebensphasen eher in die Hände der betreuenden Ärzte und der Angehörigen legen wollen (2,3). An dieser Stelle soll nicht auf alle Aspekte der aktuellen Diskussion eingegangen werden (4-12). Kritiker der geplanten gesetzlichen Regelung, die eine Rechtsverbindlichkeit der Verfügungen festschreiben könnte, verweisen darauf, dass Patientenverfügungen bereits jetzt verbindlich und daher von Ärzten zu beachten seien. Durch ein zusätzliches Gesetz befürchten sie eine zunehmende Verrechtlichung des Arzt-Patient-Verhältnisses und einen "Automatismus" bei der Umsetzung von Patientenverfügungen. Die dann juristisch geforderte Beachtung des vorausverfügten Patientenwillens könnte dazu führen, dass Ärzte ihre grundsätzliche Verantwortlichkeit für ihr Handeln nicht mehr erkennen und unter Umständen sogar ihre Fürsorgepflichten verletzten. Außerdem seien Patientenverfügungen immer auslegungsbedürftig (13). Die bereits jetzt gebotene Beachtung einer Patientenverfügung bedeute daher nicht notwendigerweise deren wortgetreue Umsetzung, sondern in erster Linie deren Berücksichtigung bei der Ermittlung des sogenannten mutmaßlichen Willens. Die Befürworter einer gesetzlichen Festlegung werfen diesen Kritikern einen Rückfall in den ärztlichen Paternalismus vor. Tatsächlich müsse zwar geklärt werden, ob die aktuelle Situation dem in der Verfügung angesprochenen Sachverhalt entspreche und ob sich Anzeichen für eine Willensänderung des Patienten finden ließe. Nach dieser Klärung und der Feststellung der Gültigkeit der Verfügung sei diese jedoch vollständig und ohne Abstriche zu befolgen, um das Selbstbestimmungsrecht des Patienten nicht zu gefährden. Anhand eines prominenten Falls soll die Problematik aufgezeigt werden. 

       Der kürzlich im Alter von 99 Jahren verstorbene Michael Ellis
       DeBakey war ein Pionier der kardialen Bypasschirurgie (14). 
       Die Geschichte seiner im Jahr 2006 diagnostizierten und
       anschließend operativ behandelten Erkrankung wurde in der 
       "New York Times" vom 25. Dezember 2006 dokumentiert (15)
   
    und steht exemplarisch für die Nichtbeachtung einer
       Patientenverfügung. 
       Am Nachmittag des 31. Dezember 2005 verspürte der damals
       97-Jährige bei der Vorbereitung eines Vortrags einen kurzen
       Zerreißungsschmerz zwischen den Schulterblättern, der zum
       Nacken hochzog. Er hatte ein Gefühl, als würde etwas im
       Bereich seiner Aorta wie von einem Ballon gedehnt. Aufgrund
       dieser Empfindung stellte er an sich selbst die Diagnose einer Aortendissektion (Aortenzerreissung), der Erkrankung, deren operative Therapie er viele Jahre zuvor selbst entwickelt hatte. Im weiteren Krankheitsverlauf wurde die Diagnose einer Aortendissektion vom Typ DeBakey II bestätigt. Wegen der Schwere der Erkrankung und seines fortgeschrittenen Alters verweigerte DeBakey seine Einwilligung zur Aufnahme in eine Klinik. Er ließ sich zu Hause pflegerisch und ärztlich betreuen. In diesen ersten Tagen seiner Erkrankung wurden seine Behandlungswünsche und die Ablehnung der Operation von allen akzeptiert. 
Knapp vier Wochen nach Erkrankungsbeginn verschlechterte sich DeBakeys Zustand zusehends. Der Blutdruck war nicht länger zu kontrollieren, er bekam Atemnot und konnte sich nicht mehr ausreichend ernähren. Im weiteren Verlauf kam es zu Nierenversagen und Perikarderguss (Herzbeutelerguss). Am 23. Januar 2006 gab DeBakey dem Drängen seines sozialen Umfelds nach und ließ sich in die Klinik bringen. Das Aortenaneurysma hatte sich zwischenzeitlich auf einen bedrohlichen Durchmesser von 6,6 cm ausgedehnt. Am 9. Februar verlor DeBakey das Bewusstsein. George P. Noon, sein chirurgischer Partner über die vergangenen 40 Jahre, stellte fest, dass eine sofortige Operation der einzige Weg sei, DeBakeys Leben zu retten, und vertrat die Ansicht, dass außer dem Alter des Patienten nichts gegen eine Operation spreche. Der zuständige Anästhesist verweigerte jedoch die notwendige Narkose, da eine solche Operation bislang noch nie an einem solch alten Menschen durchgeführt worden sei. Darüber hinaus verwies er auf eine schriftliche Patientenverfügung, mit der DeBakey die Einwilligung zu einem Eingriff versagt hatte. 

Die Haltung des Anästhesisten löste eine kontroverse Diskussion innerhalb der Klinik aus. DeBakeys Ehefrau forderte die schnellstmögliche Operation. Das Ethikkomitee der Klinik wurde einberufen. DeBakey selbst war nicht mehr in der Lage, seinen aktuellen Willen zu äußern. In der Diskussion des Komitees erinnerte man sich an widersprüchliche Aussagen DeBakeys. Auf der einen Seite hatte er gesagt, die Zeit zu sterben sei gekommen. Auf der anderen Seite habe er stets die Meinung vertreten, dass Ärzte das tun müssten, was zu tun sei. Außerdem wurde argumentiert, DeBakey habe alles für seine Familie getan. Und diese Familie wünsche nun die Operation. 
Nach einer Stunde betrat DeBakeys Ehefrau den Raum und mahnte zur Eile. Ihr Mann sterbe, noch bevor etwas getan werden könne. Letztlich stimmte das Komitee dem Eingriff zu. Die Angehörigen wurden über die Komplikationen und das mögliche Scheitern der Operation aufgeklärt und gaben ebenfalls ihre Zustimmung. Ein anderer Anästhesist führte die Narkose durch. Die Operation glückte. Im Anschluss an den umfangreichen Eingriff kam es zu einer Reihe von Komplikationen, DeBakeys Erholung verlief sehr zögerlich, schließlich konnte er im September 2006 die Klinik verlassen. Er selbst äußerte sich glücklich darüber, operiert und vor dem sicheren Tod gerettet worden zu sein. An seine Patientenverfügung sowie an die Ablehnung einer Behandlung und Wiederbelebung erinnerte er sich nicht mehr. Er vertrat darüber hinaus die Ansicht, dass Ärzte in der Lage sein sollten, solche Entscheidungen ohne Ethikkomitees zu treffen. 

Ärztliche Indikation des Eingriffs 
DeBakey darf als ältester Patient gelten, an dem bislang ein solcher Eingriff durchgeführt worden ist. Trotz dieses augenscheinlichen Behandlungserfolgs wirft die Krankengeschichte jedoch schwerwiegende juristische und ethische Fragen auf. Die von DeBakey kurze Zeit vor seiner Bewusstlosigkeit abgegebene Willensäußerung bezog sich eindeutig auf die infrage stehende Behandlungsoption. Da DeBakey einer der bedeutendsten Experten auf dem Gebiet der bei ihm selbst diagnostizierten Erkrankung war, kann behauptet werden, dass er seinen Willen in Kenntnis der wahrscheinlichen Konsequenzen des gewünschten Behandlungsverzichts geäußert hatte. Eine mögliche Änderung dieses Willens war nicht zu erkennen und wurde demzufolge im Vorfeld der Entscheidung zwischen Ärzten, Ethikkomitee und Angehörigen nicht diskutiert. An der Gültigkeit von DeBakeys Patientenverfügung kann daher nicht gezweifelt werden. Der vorgenommene operative Eingriff muss nach geltendem deutschem Recht als Körperverletzung gewertet werden und war demzufolge rechtswidrig. Ebenso wurde nach allgemein akzeptierten ethischen Maßstäben -und auch nach den Kriterien der Bundesärztekammer (16) - mit der Operation das Prinzip der Patientenautonomie in gravierender Weise missachtet. In Deutschland hätte DeBakey nicht operiert werden dürfen. 

In der Abwägung der Meinungen der Ärzte, des Ethikkomitees und der Angehörigen spielte neben der klaren Willensäußerung des Patienten auch die ärztliche Indikation des Eingriffs eine Rolle. Die Operateure hielten das Risiko trotz des Alters des Patienten für vertretbar und betrachteten den Eingriff als einzige Möglichkeit, das Leben des Patienten zu retten. Die ärztliche Indikation für den Eingriff war somit gegeben. Letztlich entscheidungs- relevant jedoch war ein Wechsel der Perspektive: Nicht DeBakey als Patient, sondern DeBakey als Arzt und Kollege stand im Vordergrund der Auseinandersetzung mit der Situation. Man fragte weniger nach DeBakeys erklärtem Patientenwillen, als vielmehr nach der Entscheidung, die der Arzt DeBakey anstelle der ihn behandelnden Ärzte treffen würde. Insofern wurde die paternalistische Grundhaltung des Arztes DeBakey auf den Patienten DeBakey angewendet. Die offenkundige Missachtung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten wurde vor diesem Hintergrund als weniger bedeutsam empfunden als der mögliche Nutzen des Eingriffs und als der Schaden, den der Patient durch den Verzicht auf die lebenserhaltende Operation vermutlich erlitten hätte. Im Nachhinein wurde dann deutlich, dass die beteiligten Ärzte, die Angehörigen und das Ethikkomitee mit ihrer Einschätzung recht hatten: DeBakey war froh, dass seine Ablehnung der Operation nicht beachtet worden war, und bekräftigte in den dokumentierten Äußerungen seine paternalistische Haltung.

 Selbstverständlich stellt sich die Frage, ob die Nichtbeachtung des erklärten Patientenwillens ähnlich positiv gewertet worden wäre, wenn DeBakey bei der Operation gestorben wäre oder wenn er den Eingriff nur mit bleibenden und schwerwiegenden Beeinträchtigungen überlebt hätte. Aufgrund der Besonderheiten und vor allem aufgrund der Doppelrolle DeBakeys als Patient und Arzt können verallgemeinernde Schlüsse aus diesem Fall nur mit großer Vorsicht gezogen werden (17). Keinesfalls kann er dazu dienen, Patientenverfügungen als wirksame Instrumente zur Wahrung des Selbstbestimmungsrecht grundsätzlich infrage zu stellen. Deutlich wird jedoch, dass Situationen am Lebensende, wie es der 110. Deutsche Ärztetag formulierte, "hochkomplex und individuell" sind (18). Patientenverfugungen bilden oft nur einen Teilaspekt der komplexen Entscheidungssituation ab. Bei den zu treffenden individuellen Entscheidungen sollten daher nach Möglichkeit auch alle weiteren Umstände und Sachverhalte, die den Beteiligten bekannt sind und die relevant sein können, bewertet werden. Im Fall DeBakey wäre eine wortgetreue Umsetzung der Patientenverfügung der Persönlichkeit des Patienten und Arztes DeBakey nicht angemessen gewesen und hätte seinen wohl sicheren Tod bedeutet. Insofern haben die an diesem Fall Beteiligten paradoxerweise mit der Missachtung der Verfügung einen verantwortlichen Umgang mit ihr bewiesen, indem sie bei der Beurteilung der individuellen Situation weniger die Verfügung, sondern in erster Linie die Denkweise und Wertestruktur des Patienten berücksichtigt haben.

 Der Fall zeigt, dass auch das Vorliegen einer Patientenverfügung den Arzt nicht von seiner Verantwortung und von seiner Fürsorgepflicht finden Patienten entbindet. Entscheidungen am Lebensende, die von Ärzten im Zusammenwirken mit Angehörigen und gegebenenfalls "mit einem Ethikkomitee getroffen werden, geht oftmals eine Gratwanderung voraus: Auf der einen Seite die indizierte Therapieoption, auf der anderen Seite die möglicherweise widersprechende Willensäußerung in Form einer Patientenverfügung. In dieser Situation gilt es zum einen, den Absturz in einen unreflektierten Paternalismus zu vermeiden. Zum anderen ist es gleichfalls nicht zu verantworten, mit dem bloßen Hinweis auf eine Vorausverfügung eine ärztlich indizierte Therapie zu unterlassen. Die Bewältigung solch komplexer Situationen erfordert ein überlegtes Abwägen, bei dem die Individualität des jeweiligen Patienten und der konkreten Situation erkannt sowie das Selbstbestimmungsrecht des Patienten als auch die von Ärztinnen und Ärzten wahrzunehmende Verantwortung berücksichtigt werden müssen. Eine größere Sicherheit in solchen Situationen wird es auch nach einer weitergehenden gesetzlichen Regelung zur Verbindlichkeit von Patienten Verfügungen nicht geben. In kritischen Ausnahmesituationen könnte es dazu kommen, dass gerade nicht (wie eigentlich beabsichtigt) der Patientenwille und ethische Überlegungen die tragende Rolle spielen, sondern dass die Entscheidungen von juristischen Diskussionen dominiert werden. Allein aus Angst vor juristischen Auseinandersetzungen könnte der ethisch gebotene, am individuellen Fall orientierte Diskurs in den Kliniken zugunsten formaljuristischer Überlegungen zurücktreten. Wichtiger als die geplante gesetzliche Regelung wäre es daher, Ärzte so auszubilden, dass sie in der Lage sind, auch und gerade in kritischen Situationen am Lebensende und bei der Umsetzung von Patientenverfügungen verantwortliche Entscheidungen treffen zu können. Der Deutsche Ärztetag hat 2008 in seinem Ulmer Papier festgestellt, dass die Medizin keine exakte Naturwissenschaft ist, sondern sich auch geisteswissenschaftlicher Erkenntnisse bedienen muss (19). Und in der Approbationsordnung wird die Vermittlung der "geistigen, historischen und ethischen Grundlagen ärztlichen Verhaltens" zu den zentralen Ausbildungszielen gezählt. Es ist zu fragen, ob ein Umfang von 28 Stunden, der in den medizinischen Fakultäten dem Querschnittsbereich Geschichte, Theorie, Ethik der Medizin im gesamten Medizinstudium durchschnittlich zugestanden wird (20), ausreichend sein kann, um angehende Ärztinnen und Arzte mit dem geisteswissenschaftlichen Rüstzeug für ihre spätere Tätigkeit zu versehen. 

Zitierweise dieses Beitrags: Dtsch. Arztebl. 2009; 106{3): A 84-7 
Anschrift für die Verfasser 
Dr. med. Charly Gaul Universitätsklinik und Poliklinik für Neurologie Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 
Emst-Grube-Straße 40, D-06097 Halle (Saale) 
E-Mail: Charty.Gaul@gmx.de 
Literatur im Internet: www.aerzteblatt.de/lit0309


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Urheberrechtlich geschützt © Dr. Michael Groh, Hügelsheim - Letzte Änderung: 03.06.2011

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